Ein neuer Aufbruch für Sachsen
Martin Dulig, Landesvorsitzender der SPD Sachsen, hat heute das Papier „Ein neuer Aufbruch für Sachsen“ vorgestellt.
Hier gibt es das Papier zum Nachlesen:
Ein neuer Aufbruch für Sachsen
Dresden, 27. Oktober 2017
Wer unser Land im Jahre 2017 betrachtet, sieht sich mit einer scheinbar paradoxen Situation konfrontiert: Die Menschen hier haben seit der friedlichen Revolution vieles für ihr Land erreicht, sonst hätte sich das Land nicht so gut entwickelt. Objektiv geht es dem Land richtig gut. Und den meisten Menschen in unserem Freistaat auch. Zugleich gibt es bei vielen Menschen Sorgen um ihre persönliche und die Zukunft des Landes, Angst vor den Veränderungen, die die Globalisierung und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen für unser Land mit sich bringen könnten, vor allem aber Enttäuschung und Frustration über die Politik. Und diese Befürchtungen und Frustrationen gehen nicht nur auf das Konto der neuen politischen Verführer und Angstmacher – sie sind auch verursacht durch eine Fehlentwicklung im Selbstverständnis der sächsischen Politik und deren Folgen insbesondere im letzten Jahrzehnt.
Als wir im Jahre 2014 wieder Verantwortung in der Landesregierung übernommen haben, konnte man den Eindruck haben, der Primat der gestaltenden Politik – gerade in den Kernverantwortungen Bildung, innere Sicherheit, soziale und verkehrliche Infrastruktur – sei zurück getreten zugunsten einer Politik, deren oberstes Ziel das Zurückfahren staatlicher Leistungen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen sei. Die Folgen einer solchen Selbstaufgabe von politischem Handlungswillen konnte man besichtigen – weniger Polizeibeamte trotz größerer Herausforderungen für die innere Sicherheit, weniger Lehrkräfte trotz offensichtlich wachsendem Bedarf, Rückbau des Verwaltungspersonals trotz offensichtlich wachsender Aufgaben im Bereich der Infrastruktur, der sozialen und gesellschaftlichen Bereich – vor allem aber das Gefühl der Menschen, die politisch Verantwortlichen hätten die berechtigten Erwartungen der Menschen aus dem Blick verloren.
Hier haben wir in den letzten drei Jahren mit großer Kraftanstrengung einen leichten Kurswechsel eingeleitet – bei der Polizei, bei den Lehrkräften, in der Personalpolitik, bei den Investitionen in die Menschen und nicht nur in die Infrastruktur.
Natürlich haben die vorherigen Regierungen und auch diese Fehler gemacht, aber eben auch vieles Richtige getan. Es geht gar nicht darum, die vernünftigen Entscheidungen in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil: Der Kurswechsel in der Personalpolitik muss genauso fortgesetzt werden wie die Stärkung von Investitionen in die Zukunft. Es ist richtig, nicht nur in Beton zu investieren, sondern vor allem in die Menschen, es geht nicht nur um technische Innovationen, sondern auch um soziale. Bei all der kritischen Diskussion, die wir aktuell erleben, dürfen wir aber auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Was gut ist bleibt gut und kann gegebenenfalls besser gemacht werden.
Was wir aber dazu benötigen, ist eine konsequente Rückbesinnung der Politik auf ihre gestalterische Verantwortung für und mit den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes.
Und genau hier liegt meine Erwartung an unseren Koalitionspartner und vor allem an denjenigen, der dieses Land als Ministerpräsident führen will: Probleme, die nicht zu übersehen sind, dürfen nicht länger ignoriert oder schöngeredet werden; verantwortliche Politik betreibt keine Flickschusterei an den Symptomen, sondern sie korrigiert Fehlentwicklungen und passt überkommene Strukturen den neuen Realitäten an. Verantwortliche Politik begegnet den Bürgern auf Augenhöhe und verteilt keine kleinen Geschenke, um ihn ruhig zu stellen.
Und zu dieser Begegnung auf Augenhöhe gehört, dass man, statt eine diffuse Sachsenseele zu streicheln, Verständnis für das verletzte Ehrgefühl der gedemütigten Seele eines Menschen hat, der seine Lebensleistung nicht anerkannt sieht. Statt zu erklären, die Sachsen seien etwas Besseres und sich von Freunden und Nachbarn abzugrenzen, hätte man die tatsächliche Lebensleistung des Einzelnen anerkennen und sich für sie einsetzen sollen. Statt gesellschaftspolitischem Einsatz mit Misstrauen zu begegnen, soll man ihn fördern.
Viele gerade im öffentlichen Dienst egal ob Lehrer oder Polizistin, ob Beamte oder Angestellte in den Verwaltungen mussten Kürzungen ertragen, weil angeblich die finanziellen Risiken so groß waren. Nun mussten sie erkennen, dass sie ausgenutzt wurden, denn selbst in den guten Zeiten wurde ihnen nichts zurückgegeben. Verantwortliche und empathische Politik betrachtet den Menschen nicht als Kostenfaktor, sondern seine Leistungsbereitschaft und seine Talente als Geschenk an die Gesellschaft, die fair behandelt und fair entlohnt werden wollen.
Man hat sich und die Öffentlichkeit über die Stellensituation bei den Lehrerinnen und Lehrern belogen und ist sehenden Auges in die Katastrophe gerannt. Jetzt wird mühsam repariert. Die Frustration und der Vertrauensverlust ist aber nicht mit kurzfristigen Maßnahmen umkehrbar, sondern braucht den ehrlichen und grundsätzlichen Lösungswillen.
Die aktuellen politischen Veränderungen in Sachsen können eine Chance für einen neuen Aufbruch in Sachsen sein. Wenn man will. Wenn man ihn ernst nimmt. Wenn man ihn nutzt.
Erst die politischen Ziele, dann die Wahl von Personen. Der Grundsatz muss, wenn man den Aufbruch nutzen will, jetzt erst recht gelten. Wir wollen aber kein kurzfristiges Aktionsprogramm. Es geht auch nicht nur um die eine oder die andere Maßnahme. Es geht hingegen um ein grundsätzliches Umsteuern, ein neues Denken und eine Herangehensweise an die Probleme in Sachsen, die jeder verantwortlich politisch gestalten will.
Damit meinen wir:
1. Offensichtliche Probleme angehen und lösen: Es muss Schluss sein damit, Probleme inkonsequent und nicht nachhaltig zu behandeln, nur um kurzfristig ein paar Euro weniger auszugeben. Sparen darf kein Selbstzweck sein. Eine Politik, die zwar alle alten Schulden zurückgezahlt hat – damit aber wichtige Investitionen in unsere Zukunft einstellt (ob in Personal, Ausstattung oder Infrastruktur), dass ist keine zukunftsfähige Politik.
2. Kleine und große persönliche Ungerechtigkeitsgefühle angehen: Auch hier wird oft an der falschen Stelle gespart, meist mit dem Argument, anderen gehe es ja schlechter. Ungerechtigkeiten können dabei oft schnell gelöst werden, wenn der Wille da ist oder Ermessungsspielräume genutzt werden.
3. Ehrlich machen: Wir haben viele gute Maßnahmen in dieser Regierung auf den Weg gebracht. Doch diese müssen auch ehrlich umgesetzt werden:
4. Wir haben ein Gerechtigkeitsproblem in Sachsen: Viele fühlen sich ungerecht behandelt und ihre Lebensleistung nicht anerkannt. Wir brauchen mehr Chancengleichheit und Anerkennung für alle Generationen.
5. Investitionen in die Zukunft umsetzen: Wir brauchen jetzt enorme Investitionen in Digitalisierung, Personal, Bildung und Infrastruktur, damit wir auch noch in der Zukunft Arbeitsplätze und einen funktionierenden, starken Staat sichern. Das heißt auch, dass wir die Arbeitsfähigkeit in vielen Teilen der Verwaltung wiederherstellen müssen – Personalbesetzung nach statistischen Wahrscheinlichkeiten des Bevölkerungswachstums funktioniert nicht. Wir müssen uns klar an den Aufgaben orientieren. Das bedeutet mehr und nicht weniger Investitionen.
Nur wenn wir den begonnenen Paradigmenwechsel zum gestaltenden und nicht verzögernden Staat konsequent vollziehen, werden wir die fünf zentralen Herausforderungen für den Freistaat Sachsen bewältigen.
Diese Herausforderungen benötigen neue gedankliche Ansätze und mutiges Herangehen; hier muss die Koalition gemeinsam nach neuen Lösungen suchen und um sie ringen, selbst wenn sie im Koalitionsvertrag bisher anders angelegt, gar nicht bedacht oder bisher so nicht gewollt waren.
Die fünf wichtigsten Herausforderungen für Sachsen sind:
1. die Stärkung der Bildung und die Lösung des Lehrermangels. Mit dem Bildungspaket haben wir angefangen, das Problem zu reparieren. Das Bildungspaket muss evaluiert und ggf. nachgesteuert werden. Es geht um Anerkennung, Wertschätzung und eine konkurrenzfähige Entlohnung in allen Schularten. Wir brauchen ausreichend Ausbildungskapazitäten, damit wir in Zukunft genügend Nachwuchs für den wertvollen Lehrerberuf ausbilden. In einer Situation, in der wir uns derzeit befinden, dass wir nicht garantieren können, vor jeder Klasse eine Lehrerin oder einen Lehrer zu haben und wir massiven Unterrichtsausfall beklagen, darf es nie wieder geben. Die Beseitigung des Lehrermangels darf uns aber nicht den Blick verstellen für die qualitative Weiterentwicklung in der Bildung. Das beginnt bei der Kita und geht über die Schule bis zur Ausbildung. Mehr Zeit für die Kinder in der Kita ist weiterhin der Grundsatz, der zu einer Verbesserung des realen Betreuungsschlüssels führen muss. Große Herausforderungen sehen wir aber in der Schule, die eine Schul- und Lernkultur und eine Ausstattung braucht, die auf die Digitalisierung genauso vorbereitet wie auf das Leben. Wir müssen den Blick auf die Chancengleichheit lenken.
2. die Investitionen in die Zukunft. Wir haben ein gutes Verkehrsnetz, trotzdem müssen noch Lücken geschlossen werden und der Erhalt inzwischen mit Priorität behandelt werden. Sachsen muss beim Bahnverkehr aufholen und sich an den Fernverkehr anbinden. Verstärkte Förderung des ÖPNV, von Radwege und synchroner Mobilität sind notwendige Investitionen in die Zukunft. Dabei stehen die Stärkung des ländlichen Raums und der urbanen Zentren gleichberechtigt nebeneinander. Die digitale Infrastruktur hat inzwischen mindestens die gleiche Bedeutung wie verkehrliche oder bauliche Infrastruktur. Wer sich auf die Gigabitgesellschaft vorbereiten will, muss in Glasfaser investieren. Der Ausbau des schnellen Internet ist die notwendige Voraussetzung für die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen und die Forschungslandschaft in unserem Land.
3. die deutliche Erweiterung der Gestaltungsspielräume der Politik vor Ort. Wenn eine Kommune nicht mehr selber entscheiden kann, ob sie die Schule saniert, einen Kindergarten baut oder die Sportanlage herrichtet, verwaltet sie nur noch und erklärt nicht selten ihren Bürgerinnen und Bürgern, dass die Landes-, Bundes- oder Europapolitik sie an der Gestaltung ihres Ortes hindert. Wut und Frust auf „die da oben“ sind ein Ergebnis. Wenn den Kommunen durch die Rechtsaufsicht und durch die Kontrolldichte mancher Förderstrukturen zu viel Misstrauen entgegengebracht wird, muss man sich über die Entfremdung zwischen Land und Kommunen nicht wundern. Wenn sich Verwaltungen immer mehr von Bürgerwillen entfernen, entfernen diese sich immer mehr von Politik. Denn Politik und Verwaltung werden oft gleichgesetzt. Den Kommunen muss mehr Vertrauen entgegengebracht werden und sie müssen die finanziellen Handlungsspielräume erhalten, die ihnen eine Gestaltung der Entwicklung ihres Ortes, ihrer Gemeinde, ihrer Stadt oder ihres Landkreises ermöglichen. Ein Weg dazu kann über mehr Pauschalen als über detaillierte Förderprogramme gehen. Außerdem sollten wir die Entscheidungen zu Aufgaben und Funktionen der Verwaltungen dahingehend überprüfen, ob sie sinnvoll und effektiv waren und sie dort korrigieren, wo es angebracht ist.
4. die Erhöhung der Sichtbarkeit und Präsenz der Polizei. Nachdem wir den Stellenabbau bei der Polizei gestoppt und inzwischen mehr Stellen und Ausbildungskapazitäten bei der Polizei geschaffen haben, müssen wir uns die Struktur in Sachsen anschauen. Die Strukturreformen der letzten Jahre haben die Sichtbarkeit der Polizei vor Ort minimiert. Der Abbau von Polizeirevieren und Polizeiposten hat bei vielen Bürgerinnen und Bürgern Unbehagen ausgelöst und zur Verunsicherung und Angst beigetragen. Jetzt haben wir eine reine Auftragspolizei, die selten Zeit hat, Gespräche über den Gartenzaun zu führen oder ohne Auftrag Streife zu gehen. Wir wollen eine Polizei zum Anfassen. Wir wollen den Polizisten im Stadtteil genauso wie auf dem Dorf. Und wir wollen, dass die Polizei auch nachts in jedem Winkel des Freistaates Sachsens schnell vor Ort sein kann. Es geht nicht um die Schaffung eines Polizeistaates aber die Sichtbarkeit auch über eine bürgernahe Revierstruktur ist wieder herzustellen. Um das Sicherheitsgefühl der Menschen zu stärken, ist eine zeitgemäße Ausstattung genauso wichtig wie die Stärkung der Prävention. Das Gewaltmonopol des Staates darf nicht in Frage gestellt werden, d.h. dass neben der Stärkung unserer Polizei auch die personelle Stärkung des gesamten Justizapparates notwendig ist.
5. die Stärkung des Sozialen Sachsen gerade bei der medizinischen Versorgung und bei der Pflege. Dazu gehört eine andere Wertschätzung und Stärkung der Sozialen Arbeit genauso wie die Sicherstellung medizinischer und sozialer Infrastrukturen in Stadt und vor allem in den ländlichen Bereichen. Wir müssen die Pflege besser unterstützen. Menschen die gepflegt werden, verdienen Sicherheit darüber, dass sie in guten Händen sind und sein werden. Pflegende Angehörige und Pflegekräfte brauchen die Anerkennung, die sie verdienen und die Chance nach ihren eigenen Ansprüchen zu arbeiten – mit Zeit und Gefühl für jeden Einzelnen. Familien brauchen im Pflegefall bessere und verlässlichere Unterstützungsstrukturen und Ansprechpartner. Wenn in Regionen Pflegeplätze oder Pflegekräfte fehlen, dürfen Lösungen nicht an zersplitterten Zuständigkeiten scheitern. Kommunen müssen auch hier vom Land besser ausgestattet werden, um tätig werden zu können. Wir haben einerseits leidenschaftlich pflegende Pflegekräfte, andererseits müssen sie ihrer Arbeit unter teils schwierigen Arbeitsbedingungen nachgehen – nicht nur niedrige Löhne, sondern auch fehlende Kolleginnen und Kollegen führen zu Überlastungen und enormem Druck. Die Zahl der Pflegebedürftigen nimmt zu – es fehlen aber schon jetzt Pflegekräfte. Insbesondere in den Krankenhäusern und Pflegeheimen reicht das Personal oft nicht. Deswegen müssen wir mehr Nachwuchs gewinnen, die Zahl der Ausbildungsplätze überprüfen und die praktischen Ausbildungsbedingungen verbessern. Die „professionelle“ Pflege braucht mehr Personal und für dieses bessere Arbeitsbedingungen. Dazu sollte man sich für einen Azubi-Tarifvertrag und einen Pflege-Tarifvertrag zusammenfinden.
Unsere Aufgabe, Aufgabe von Politik ist es, die Lebensqualität und die Lebenschancen der Menschen in Sachsen zu verbessern – egal ob in den ländlichen Bereichen oder in den urbanen Ballungszentren. Der Maßstab für die Lösungswege für diese Aufgabe muss unserer Meinung nach sein, dass es konkret bei den Leuten ankommt, dass es die Lebenssituation der meisten Menschen in Sachsen verbessert und das die Lösung nicht nur kurzfristige Effekte sind, sondern nachhaltige.
Wenn wir diesen Primat gestaltender Politik wieder zurück gewinnen wollen, dann muss das auch Konsequenzen für die Haushalts- und Finanzpolitik bedeuten. Damit soll weder die Schuldenbremse noch ein verantwortungsvolles Haushalten in Frage gestellt werden. Aber Sachsen hat die finanziellen Möglichkeiten und kann mit der Änderung der Sächsischen Haushaltsordnung Dinge ermöglichen, anstatt Weiterentwicklung zu behindern.
Wir laden ein, über Lösungen der großen Herausforderungen für Sachsen zu streiten. Das gilt für Bürgermeister, Landräte und Kommunalräte genauso wie für Interessenvertreter und Berufsverbände, das gilt für Institutionen und Verbände genauso wie für alle Bürgerinnen und Bürger in Sachsen, die helfen wollen, eine anständiges, gerechtes und fortschrittliches Sachsen zu gestalten.
Wir laden die CDU ein, mit uns über neue Lösungen zu diskutieren, die Zukunft unseres Landes wieder politisch zu gestalten und einen neuen Aufbruch für Sachsen zu wagen.