Martin Dulig hat im April 2019 den Bürgerrechtler Frank Richter, den Augustusburger Bürgermeister Dirk Neubauer und Petra Köpping gebeten, Vorschläge zu erarbeiten, wie wir in Sachsen die Demokratie vor Ort stärken und wie wir manche Strukturen vom Kopf auf die Füße stellen können.
Am 1. Juli haben sie ihr Konzept vorgestellt. Es steht unter der Überschrift „Demokratie leben, heißt Macht teilen“. Die Vorschläge sind ein erster, wichtiger Schritt, um verkrustete Strukturen in Sachsen aufzubrechen und zu demokratisieren.
Wir brauchen in Sachsen einen Aufbruch zur demokratischen Erneuerung. Wie einst fast 30 Jahre nach Kriegsende Willy Brandt notwendige Demokratie-Reformen in der alten Bundesrepublik begann, alte Strukturen aufbrach und „mehr Demokratie wagte“, müssen wir 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution erkennen, dass wir einen ebensolchen Aufbruch in Deutschland brauchen. Deswegen werden wir in Sachsen Demokratie neu beleben und gemeinsam mit Leben füllen. „Wir sind das Volk“ hallte es 89 durch die Straßen im Osten. Es ist an der Zeit, diesen Ruf wieder mit mehr Leben zu füllen.
Die politische Landschaft im Freistaat Sachsen ist im 30. Jahr nach der Wiedervereinigung gekennzeichnet von Zentralismus, überbordender Bürokratie und verkrusteten Strukturen. Ja, auch wir haben unseren Anteil an dieser Entwicklung. Dies müssen wir uns ehrlich eingestehen. Doch aus Fehlern kann und muss man lernen.
So war die gesamte Zahl an sächsischen Kreisgebiets- bzw. Verwaltungsstrukturreformen stets geprägt von einer Entfernung der Gemeinde- und Kommunalverwaltungen von den Menschen. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, aber auch die Landräte können ihrer Aufgabe als direkte Repräsentanten ihrer Bürgerinnen und Bürgern gar nicht mehr nachkommen.
Die Strukturen heute sind das Abbild dessen, was nach dem Mauerfall aus dem Westen unkritisch übernommen wurde. Bis heute blieben sie nahezu unverändert bestehen. Ein Umstand, unter denen Bürgerinnen und Bürger und selbst wir als Politiker und Entscheidungsträger der verschiedenen Ebenen leiden.
Über die Jahrzehnte wurde immer mehr Entscheidungsgewalt weg von den Bürgerinnen und Bürgern hin zu Landkreisen, Landesdirektionen und der Landespolitik verlagert. Zudem steht ein Großteil des Finanzaufkommens unter der Entscheidungshoheit des Freistaates. Daraus folgte, dass die Stadt- und Gemeinderäte gerade kleinerer Städte und Gemeinden in ihren Möglichkeiten vor Ort mehr und mehr eingeschränkt wurden.
Diese von Bürgerinnen und Bürgern vor Ort als Verantwortliche gewählte Vertreter wurden im Laufe der Zeit eher zu Antragstellern denn zu Entscheidern. Doch genau letzteres müssten sie mit Blick auf den demokratischen Gedanken und die verfassungsrechtlich gesicherte kommunale Selbstverwaltung eigentlich sein.
Viele Beschlüsse stehen unter dem Vorbehalt, dass die betreffenden Vorhaben erst durch Fördermittel überhaupt möglich werden. Die aber stehen unter der Ägide komplexer und langwieriger Verfahren, die außerhalb des Einflussbereiches der Bürgerinnen und Bürger durchgeführt und entschieden werden. Dies hat zur Folge, dass die Menschen zunehmend den Glauben an die von ihnen gewählten Strukturen vor Ort und damit an die Kraft und den Sinn der Demokratie verlieren. Wahlbeteiligungen und das Interesse an den Prozessen vor Ort gehen zurück. Das Gefühl, die Kontrolle über das Leben zuhause zu verlieren, wächst. Die Abneigung gegen die repräsentative Demokratie ist hoch, die meisten Menschen haben kaum Verbindung zu den Institutionen der Parlamente und Exekutive. Erschwerend bekommt der Gedanke Zulauf, eine neue Kraft, gleich welcher Art und welchen Inhaltes, könne es schon richten. Dem wollen wir mit einem neuen demokratischen Aufbruch begegnen. Das geht unserer Meinung nach nur von unten.
Wir werden daher als SPD in der nächsten Legislaturperiode direktdemokratische Instrumente und eine die Verschränkung dieser Beteiligungsrechte mit parlamentarischen Verfahren auf Landesebene stärken. Wir wollen die Mitbestimmung in Betriebs- und Personalräten und in Schulen ausbauen. Wir wollen aber vor allem Bürgerinnen und Bürgern vor Ort mehr Vertrauen geben, ihren Stadtteil, ihr Dorf oder Stadt selbst zum Besseren zu gestalten. Wir glauben daran, dass wir zusammen unser Leben in Sachsen besser machen können.
In vielen Städten und Dörfern beteiligen sich schon Bürgerinnen und Bürger zusammen mit Bürgermeistern sowie Stadt- und Gemeinderäte und den Vereinen vor Ort. Wir wollen aber mehr Bürgerbeteiligung, um den Zusammenhalt im Land und das Vertrauen in die Politik und in der Bürgerinnen und Bürger in sich selbst zu stärken. Wir wollen dabei innovative digitale Lösungsideen mit den analogen Stärken der Macher vor Ort verbinden. Wir wollen das sinnvolle Gleichgewicht zwischen repräsentativer Demokratie und direkter Partizipation erreichen, denn unsere Vorschläge werden auch die kommunalen Parlamente stärken.
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Dies ist eine Vision, die wir Schritt für Schritt umsetzen werden.
1. Wir wollen den Städten und Gemeinden eine stabile, planbare und deutlich bessere finanzielle Grundausstattung durch den Freistaat geben. Das gleicht einem revolutionären Akt: Denn finanziert werden soll dies durch die Streichung von Förderprogrammen, die bspw. durch die Sächsische Aufbaubank ausgereicht werden. Finanzielle Möglichkeiten sind die Basis für mehr direkte Demokratie vor Ort.
Denn nur so erhalten die gewählten Gremien auch den Spielraum, Bürgerbedürfnisse auch umsetzen zu können. Dies wiederum stärkt das Interesse der Bürger an Beteiligung, Wahlen und ermöglicht damit Teilhabe an Entscheidungen. Basis für solche Zuweisungen können Pauschalen pro Einwohner sein, die frei von Restriktionen eingesetzt werden können. Förderung sollte sich künftig auf hoheitliche Aufgaben oder größere Infrastrukturmaßnahmen beschränken.
2. Für die direkte Einflussmöglichkeit bei grundlegenden Fragen zur Entwicklung in der Kommune vor Ort sollen für ein Bürgerbegehren nur noch Unterschriften von fünf Prozent der Wahlberechtigten gesammelt werden müssen.
3. Wir wollen überall in Sachsen sogenannte Bürgerhaushalte ermöglichen. Die vom Freistaat als Sonderprogramm bewilligten und auf drei Jahre befristeten Pauschalzahlungen von 70.000 Euro für jede Kommune mit mehr als 1.000 Einwohnern müssen daher unbefristet weiter gezahlt werden.
Mit diesem Geld können Kommunen Bürgerbeteiligungsprojekte durchführen und damit die ehrenamtliche Mitarbeit der Einwohnerinnen und Einwohner zum Wohle der Kommune und damit der Allgemeinheit ermöglichen. Hier können Bürgerinnen und Bürger eigene Ideen umsetzen, indem sie die Möglichkeit zur Entscheidung dafür erhalten. Einfach und basisdemokratisch. Viele Gemeinden in Sachsen, wie etwa Lichtenstein, Roßwein und Augustusburg, machen es erfolgreich vor. Diese Gelder sollen in einem neuen, unbürokratischen Verfahren direkt nach Entscheid der Bürger und des Stadt- oder Gemeinderates von den Kommunen an die Bürgerprojekte ausgezahlt und nach Umsetzung abgerechnet werden können. Dies stärkt das Vertrauen und motiviert zur Teilhabe. Wir schaffen den rechtlichen Rahmen, damit das geht.
4. Wir ermutigen alle Kommunen, mindestens einmal im Jahr eine öffentliche und thematisch offene Einwohnerversammlung durchzuführen, wie sie bereits von der Gemeindeordnung verpflichtend vorgeschrieben ist. Dazu werden wir gemeinsam mit dem Sächsischen Städte- und Gemeindetag eine Kompetenzstelle schaffen, welche die Dörfer und Städte unterstützt, diese zu einer erfolgreichen Bürgerversammlung zu machen. Hier geht es sowohl um Unterstützung durch professionelle Moderatoren-Teams als auch um die symbolische Aufwertung der Versammlungen.
Die Versammlungen erfüllen ihren demokratischen Zweck nur dann, wenn rechtzeitig und in breiter Öffentlichkeit eingeladen wird, wenn eine Räumlichkeit gewählt wird, welche die Teilnahme möglichst Vieler ermöglicht und wenn alle maßgeblichen Verantwortungsträger anwesend und bereit sind, den Bürgerinnen und Bürgern Rede und Antwort zu stehen. Die Kommune ist hierbei verpflichtet, die relevanten Fragen auch zu beantworten.
5. Es braucht wieder den Mut zu mehr eigenverantwortlichen Entscheidungen innerhalb der Behörden und Ämter. Wir brauchen Entscheidungsmut und Ermöglichungshaltungen. Das muss gedeckt sein durch politisch akzeptierte Fehlertoleranz, die wir nur auf Landesebene herstellen können. Der Mut zur menschlichen Entscheidung muss gestärkt werden. Wir brauchen daher eine neue Leitkultur für den Öffentlichen Dienst, um Projekte und Ideen zu ermöglichen und nicht zu allererst zu prüfen, warum etwas nicht geht.
Meistens liegt das nicht am einzelnen Beschäftigten, sondern an einer „Unkultur von oben“. Das zu ändern, liegt in der Verantwortung der Verwaltungen der Städte und Dörfer, wie auch des Gesetzgebers auf Landesebene und des Rechnungshofes. Wir werden Ansätze erproben, um die individuelle Arbeit von Verwaltungsmitarbeitern am Maß an Ermöglichung zu messen und nicht allein anhand von Fallzahlen. Rein ökonomische Interessen dürfen nicht immer Vorrang haben.
6. Um die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an den Belangen ihrer Stadt oder Kommune zu erleichtern, soll der Freistaat die Entwicklung der digitalen Möglichkeiten wie Bürgerplattformen, lokale, digital gestützte Nachbarschaftsnetzwerke oder anderer, der Bürgervernetzung und dem besseren Austausch mit den Stadt- und Gemeindeverwaltungen dienlichen Instrumente fördern. Wir wollen hier eine Digitalpauschale pro Bürger und Jahr einführen.
Dafür werden wir in der nächsten Legislaturperiode insgesamt 90 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Diese Finanzmittel sollen auch für die dringend nötige Digitalisierung der Kommunen verwendbar sein und zunächst für vier Jahre beschlossen werden. Damit wird gerade in größeren Flächeneinheiten der Kontakt zur Kommune erleichtert und die Nutzung von Angeboten und Dienstleistungen der Städte und Gemeinden bürgerfreundlich gestaltet und erheblich erleichtert.
7. Wir wollen Instrumente entwickeln und unterstützen, die das Leben vor Ort verbessern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Wir wollen innerhalb eines jährlichen Wettbewerbs nach Lösungsvorschlägen suchen, die das Zusammenleben der Menschen in Stadt und Land spürbar verbessern helfen, und diese mit einer halben Million Euro unterstützen. Die Lösungsvorschläge sollen für andere Dörfer und Städte übernehmbar sein und eine digitale Komponente enthalten. Auch so werden wir die Digitalisierung in Sachsen vorantreiben.
Dies sind die ersten Schritte für eine Vision, die Demokratie in Sachsen wieder stärker vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es ist keine Frage des Ob, sondern nur des Wie.