Foto: Kerstin Pötzsch
„Die Nachwendezeit muss auf den Tisch“
Warum sind Misstrauen in und die Distanz zu Demokratie und Politik in Ostdeutschland größer als anderswo? Die Antworten auf diese Frage sind sicherlich vielschichtig. So gibt es eine starke extreme Rechte, die besonders in Sachsen wachsen konnte, weil das Problem lange geleugnet wurde. Die Gegenmacht gegen Rechts ist schwach aus-geprägt. Autoritäre Denkmuster haben überlebt, weil demokratische Bildung nicht notwendig erschien. Zudem zeigt die Umfrage des Sachsen-Monitors, dass sich viele Sachsen mit besonders harten Ressentiments sehr ungerecht behandelt fühlen und besonders große Zukunftsängste haben. In Ostdeutschland gibt es mehr Arbeiterinnen und Arbeiter und kleine Angestellte mit Niedriglöhnen und somit droht vielen Altersarmut.
Ich glaube aber, dass wir keine vollständige Antwort finden werden, wenn wir uns nicht endlich mit der Nachwendezeit beschäftigen. Hier liegt die Ursache für viele Ungerechtigkeitsgefühle. Laut dem Sachsen-Monitor sagt jeder Zweite in Sachsen, dass auch nach der Wiedervereinigung neue Ungerechtigkeiten geschaffen worden seien. Diese Menschen sind zudem doppelt so unzufrieden mit der Demokratie in Deutschland.
Es geht um Gefühle der Kränkung, Demütigung und Wut. Das Schicksal des Arbeitsplatzverlustes hat vor allem die kleinen Leute getroffen. Es entstand ähnlich wie im „Rostgürtel“ in den USA eine entwurzelte Arbeiterschicht. Dieser Prozess fiel in Sachsen mit der Wiedervereinigung zusammen – kollektiv, schnell und durchdringend. Es traf auch Diplomingenieure und Fachkräfte, die um ihre Lebensbiografie gebracht wurden. Den Start der Marktwirtschaft erlebten die Menschen als knallharten Abbau ihres bisherigen Lebens. Es wurde nicht mit Bedacht etwas Neues aufgebaut, sondern in einer Art Turbokapitalismus der Nachwendezeit alles einfach umgekrempelt. Westdeutsche Vorgesetzte wurden an die Spitze gesetzt. Wenn heute viele über das Misstrauen in Eliten und Institutionen in Folge der Finanzkrise und des Zusammenbruchs von Lehman-Brothers klagen, kann ich nur sagen: Einen solchen Turbokapitalismus haben die Ostdeutschen schon 20 Jahre früher erlebt.
Natürlich empfinden nicht alle Sachsen und Ostdeutschen so. Im Gegenteil, manche haben sich in der Nachwendezeit ihren Wunsch-traum erfüllt, beruflich wie privat. Andere waren froh, der desolaten Planwirtschaft zu entkommen und eine Selbstständigkeit aufzubauen. Wir können stolz sein auf das Erreichte. Aber lasst uns gleichzeitig auch festhalten, was nicht in Ordnung ist.
Die Erinnerungen stecken übrigens nicht nur in den Hinterköpfen von Leuten, denen es heute wirtschaftlich schlecht geht. Viele haben sich trotzdem durch-gekämpft, viele haben die neuen Chancen mit harten Anstrengungen genutzt. Aber das Gefühl bleibt bestehen. Und ich bemerke leider auch, dass viele aufgrund der Kränkungen böse und wütend geworden sind. Dass die Ungerechtigkeitsgefühle dazu führen, Neid auf andere zu entwickeln, die es vermeintlich „einfacher“ haben, statt für eine sozial gerechte Politik einzutreten.
Die Nachwende-Zeit muss also endlich auf den Tisch! Wir müssen darüber sprechen! Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte darüber, und zwar eine gesamt-deutsche. Das Thema muss auch in die Schulen. Es muss differenziert diskutiert werden, denn ohne Frage ist vieles nicht nur gut gelaufen. Es war ein großer historischer Umbruch – mit all seinen guten, aber auch schlechten Seiten.
Petra Köpping,
Sächsische Staatministerin für Gleichstellung und Integration
„Integriert doch erstmal uns!“ – Eine Streitschrift für den Osten von Petra Köpping
Warum sind das Misstrauen und die Distanz zu Demokratie und Politik in Ostdeutschland so groß? Woher kommt all die Wut? Das fragt die sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin Petra Köpping. »Integriert doch erst mal uns!« – diesen Satz hat sie in Gesprächen mit Bürgern und Anhängern von Pegida immer wieder vernommen. Köpping fordert mit Nachdruck eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit. In den unbewältigten Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, in den Lebensbrüchen und Entwurzelungen der 1990er Jahre sieht sie eine wesentliche Ursache des heutigen Dilemmas. Ausführlich geht sie auf viele Probleme ein, die in der damaligen Zeit ausgeblendet oder bewusst verdrängt wurden – von der verfehlten Treuhand-Politik über den Elitenaustausch, die Abwertung von Berufsabschlüssen und den Verlust von Betriebsrenten bis hin zum Generalverdacht politischer Rückständigkeit, weil man in der DDR und damit in einer Diktatur gelebt habe. Entstanden ist eine Streitschrift, in der sie für einen neuen Blick auf die Situation in Ostdeutschland wirbt.
Das Buch erschien am 5. September 2019. Informationen: www.christoph-links-verlag.de