Integriert doch erstmal uns! – Eine Streitschrift für den Osten

Am Rande der PEGIDA-Demonstrationen im Herbst 2014, ich war erst wenige Tage im Amt als Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, versuchte ich mit den Menschen ins Gespräch gekommen. Ich wollte wissen: Woher kommen all der Hass und die Wut – auf Geflüchtete, auf Politikerinnen und Politiker, auf „die da oben“? „Integriert doch erstmal uns“ war eine Antwort, die ich seitdem sehr oft erhalten habe. Dadurch reifte in mir der Gedanke, dass wir uns endlich umfassend und kritisch mit den Erfahrungen und Erlebnissen der Ostdeutschen in der Nachwendezeit auseinandersetzen müssen. In den unbewältigten Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, in den Lebensbrüchen und Entwurzelungen der 1990er Jahre sehe ich eine wesentliche Ursache der dargestellten Situation. Die Gespräche, Einladungen, Briefe und Mails, die die seitdem bekam, wollte ich nicht für mich behalten. In meinem nun Anfang September erscheinenden Buch gehe ich auf viele Probleme ein, die ausgeblendet oder verdrängt worden sind. Ich nenne hier nur einige Stichworte: verfehlte Treuhand-Politik, Elitenaustausch, Abwertung von Berufsabschlüssen und der Verlust von Betriebsrenten. Das prägt die Biografien und die jeweiligen Regionen bis heute tief. Man hätte die Aufbruchsstimmung stärker nutzen und die ostdeutsche Bevölkerung im Zuge der Privatisierung des einstigen Volkseigentums stärker beteiligen müssen. Die wenigsten Belegschaften konnten bei der Zukunftsplanung ihres Betriebs mitreden. Beispielsweise wurden 85 Prozent der von der Treuhand verwalteten Betriebe letztlich an westdeutsche Eigentümer übergeben. Aus meiner Zeit als Landrätin des Altkreises Leipziger Land kenne ich viele Fälle, bei denen ostdeutsche Aufbauwillige von der Treuhandanstalt andere Kaufbedingungen genannt bekamen als westdeutsche Unternehmer. Das prägte und das prägt die Blick auf Treuhand und Nachwendezeit – und beeinflusst die Sicht der Menschen auf Staat und Gesellschaft bis heute.

Mit der Streitschrift für den Osten plädiere ich für einen neuen Blick auf die Situation der Menschen in Ostdeutschland. Die überwältigende Resonanz, die ich in den vielen Gesprächsrunden, in Einzelgesprächen, postalisch und per Mail erhalten habe, bestärkt mich darin, dass es Zeit für eine Neubewertung und die daraus abzuleitenden politischen Schlussfolgerungen ist. Es geht mir nicht darum, gegen den Westen zu sein. Über die Probleme der Nachwendezeit zu reden bedeutet ja nicht, die Deutsche Einheit schlecht zu reden. Man denke nur an die Fortschritte im Umweltschutz, beim Ausbau der Infrastruktur, bei der Sanierung der verfallenen Städte und so weiter. Doch bei alldem dürfen die Menschen nicht vergessen werden. Wir müssen die vorhandenen Gefühle der Ostdeutschen ernst nehmen. Nur wenn Ungerechtigkeiten auch als das benannt werden, was sie sind, und ein Wille erkennbar wird, diese abzumildern, können Demütigungen, Kränkungen und Verweigerungshaltungen überwunden werden. Nur dann kann sich unser demokratisches Gemeinwesen erfolgreich entwickeln und gestärkt werden. Ich hoffe, dass ich mit meinem Buch einen Startschuss für eine Neubewertung und eine zugleich bundesweite Debatte um die Nachwendezeit geben kann!

Petra Köpping