Antisemitismus, Rechtsextremismus und Ost-West

Liebe Genossinnen und Genossen ,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr heute hier zu sein und mit Ihnen einen diskussionsfreudigen Abend zu erleben. Und gleichzeitig empfinde ich doch einen gewissen faden Beigeschmack, denn nun stehe ich 30 Jahre nach der Deutschen Einheit hier in Bochum und fühle mich gezwungen den Osten zu erklären.

Ich vermute, Sie sind gekommen, um zu erfahren, was da gerade im Ostdeutschland los ist. Was die Menschen in Sachsen bewegt. Sie sehen die Wahlergebnisse der AfD. Sie sehen massive Wut und auch Hass.

Und die westdeutsche Presse berichtet über mein Bundesland von „dem Skandalland“ und „braunen Schandfleck“. Ich muss Ihnen sagen: solche Berichterstattung klang in meinen Ohren wie Auslandsberichte von Auslandskorrespondenten aus irgendeinem weit entfernten Land.

Doch gerade Sie hier im Ruhrgebiet haben vielleicht auch einen differenzierten, einen genaueren, einen wachsameren Blick. Sie wissen, dass die Rechtspopulisten auch in Gelsenkirchen, Duisburg oder Essen von 12 bis 15 Prozent in manchen Wahlkreisen bekommen haben. In manchen Stadtteilen über 20 Prozent.

Sie kennen die starke rechtsextreme Szene in Dortmund und anderen Städten.

Und: Sie wissen, was Strukturwandel bedeutet.

Und genau aus diesem Grund weiß ich, dass es hier vermutlich auch Unverständnis geben wird. Einige waren schon verwundert, dass ich ausgerechnet nach Bochum gehe.

Denn natürlich ist hier verständlicher Weise die Kritik und vielleicht auch die Wut besonders stark, wenn der Osten auf seine Probleme hinweist:

In den Osten sind sehr viele Mittel geflossen, während gerade im Ruhrgebiet viele Jahre zu wenig investiert wurde.

Im Osten sei alles schön herausgeputzt und neu gebaut. Bei uns im Westen verfallen die Straßen und die Infrastruktur.

Und das ist ja auch ein Teil der Wahrheit

Doch gleichzeitig höre ich auch manches Vorurteil: Und klingt dann fast so ähnlich wie die  Ressentiments vieler Ostdeutsche gegenüber Geflüchteten: „Die haben doch schon genug Geld bekommen. Für die wird Geld ausgegeben, aber für uns ist nichts da.“

Was ich damit meine?

Der Historiker Marcus Böick, der gerade erst seine Doktorarbeit über die „Treuhand“ hier an der Ruhruniversität erfolgreich abgeschlossen hat, berichtete in der Süddeutschen Zeitung, als er zum Studieren nach Bochum gezogen war, sagte ihm die Maklerin bei der Wohnungssuche, sie müsse erst Rücksprache mit dem Besitzer halten, weil er ja ostdeutsch sei. Ach ja, er bekam die Wohnung nicht.

Vielleicht ist etwas an dem Argument der Migrationsforscherin Naika Foroutan dran, die letztens Ostdeutsche und Migranten verglichen hat:

Sie sagt:Sehr viele Erfahrungen, die Ostdeutsche machen, ähneln den Erfahrungen von migrantischen Personen in diesem Land. Dazu gehören Heimatverlust, vergangene Sehnsuchtsorte, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen.“

Sowohl Türken, Italienern und Ostdeutschen sei gleichsam unterstellt worden, „sie hätten nie gelernt, richtig zu arbeiten. Oder die Reaktion, wenn jemand über Ungleichheit spricht. Jammer-Ossis heißt es bei den Ostdeutschen, Opferperspektive bei Migranten.“

Und sie schreibt weiter:

„Auch der Vorwurf, hier nicht richtig angekommen zu sein, ist ähnlich. Ebenso wie der, sich in der sozialen Hängematte auszuruhen und von Sozialleistungen oder dem Soli zu leben. Sogar der Vorwurf, nicht demokratiekompatibel zu sein“.

Ich habe letztens bei dem Historiker Philpp Ther gelesen, dass es Helmut Kohl gewesen sei, der den „Jammer-Ossi“ für seine politsche Kampagne bei den Wahlen 1994 benutzt habe, um Mehrheiten und Wähler zu bekommen.

Eine ökonomisch schwache Minderheit anzugreifen, um Mehrheiten zu gewinnen –  das ist eine klassisch rechte Strategie.

Und auf die Faulheit, Sozialschmarotzertum und mangelnde Produktivität verweisen, um marktradikale Ideen umzusetzen? Das wiederum ist eine klassische neoliberale Strategie.

Und auch diese wurde angewandt, um kritische Stimmen gegen den neoliberalen Umbau in Ostdeutschland zu diskreditieren. Kritiker wurden so zu „DDR-Nostalgikern“ und „Wendeverlierern“.

So lief das damals, so läuft es heute. Früher gegen die Ossis, später gegen die Griechen oder die Flüchtlinge.

Aber auch deswegen bin ich hier:

Es wäre fatal, wenn wir uns gegeneinander ausspielen lassen: Ruhrgebiet gegen Lausitz. Flüchtlinge gegen Ostdeutsche. Deutsche gegen Italiener.

In der Süddeutschen hieß es: „Oft hört man derzeit: Die da drüben sollen nicht jammern, dem Ruhrpott gehe es auch nicht besser. Dabei wäre genau das ein Grund, auf gemeinsame Forderungen zu setzen statt auf spaltende Neiddebatten. Nicht gegen die schwachen Regionen und Teile der Gesellschaft zu reden, sondern mit ihnen. Manchmal sogar für sie.“

Genau das meine ich. Zusammenhalten und gleichzeitig ein paar Unterschiede sichtbar machen

Doch ich glaube, zunächst brauchen wir eine Aufarbeitung. Eine Aufarbeitung der Nachwendezeit. Und zwar in Ost und West. Ich glaube nämlich, es ist ein zentraler Schlüssel zu vielen Fragen:

Warum sind das Misstrauen in und die Distanz zu Demokratie und Politik in Ostdeutschland besonders groß? Woher kommt all die Wut? Warum gibt es so viele Vorurteile gegen Ostdeutsche im Westen? Und was sind die Bedingungen für ein solidarisches Bündnis zwischen Ost und West?

Es ist so: Als Integrationsministerin habe ich in den letzten Jahren Hunderte von Leuten am Rande von Pegida-Demonstrationen und ähnlichen Veranstaltungen gesprochen. Wir holen als Sächsische SPD seit 5 Jahren die Menschen an den Küchentisch unseres Landesvorsitzenden Martin Dulig und hören zu, erklären und diskutieren. Und zu Beginn jedes Gespräches griffen mich die Leute wegen der Flüchtlinge an.

Doch ich habe die Angewohnheit, dass ich mein Gegenüber irgendwann frage, „wer sind Sie denn eigentlich?“

Und fast in allen Fällen war recht schnell nicht mehr die „Flüchtlingsproblematik“ das alles entscheidende Thema. Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen während der Nachwendezeit.

Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht.

Auch die mehr oder weniger Erfolgreichen haben also diese Gefühle. Es sind nicht allein die vermeintlichen „Wendverlierer“.

Ich glaube: Die meisten Westdeutschen haben noch nicht verstanden, was eigentlich wirklich im Osten nach 1990 passiert ist.

Nirgendwo im Ostblock brach die Wirtschaft nach 1989 so stark ein wie in Ostdeutschland. „Nur Bosnien und Herzegowina wiesen ähnliche Zahlen auf – nach dem Jugoslawienkrieg“, schrieb die Journalistin Jana Hensel in der ZEIT.

Allein 1,4 Millionen Ostdeutsche gingen bis 1993 in den Westen.

Und für die Zurückgebliebenen änderte sich von einem Tag auf den anderen quasi alles. Der Ausweis, die Postleitzahl, die Versicherungen, die Autos samt ihrer Kennzeichen. Die Kinder gingen in andere Schulen, das Geld wurde ausgetauscht, es gab neue Zeitungen und neue Behörden. Und es gab natürlich auch neue Freiheiten.

Einige haben davon profitiert, andere zerbrachen daran. Der gesellschaftliche Umbruch hatte nicht nur wirtschaftliche Folgen, sondern betraf die gesamte Lebenswelt – und beeinflusst sie bis heute. Das ganze bisherige Leben schien ad hoc nichts mehr wert zu sein.

Ich erinnere mich noch genau: Ich war damals Bürgermeisterin und „Ehrenbergfrau“, als ich der „feierlichen Sprengung“ der Bergbaugeräte am heutigen Störmthaler See „beiwohnen“ durfte. Ich sah die Bergleute neben mir, die teils seit Jahrzehnten dort gearbeitet hatten und jede Schraube kannten. Denen standen die Tränen in den Augen. Nicht vor Freude. Das waren Tränen der Trauer und der Perspektivlosigkeit.

Ja, diese Trauer gab es auch im Ruhrgebiet. Auch bei ihnen sind sicher Tränen geflossen. Aber es wurde über Jahrzehnte Trauerarbeit geleistet.

Im Osten wurden die Leute über Nacht entlassen. Es ist sogar so: Die neoliberale Treuhand-Spitze hat bewusst auf einen krassen Turbokapitalismus gesetzt, weil man keinen subventionierten und politisierten Strukturwandel wie im westdeutschen Regionen wollte, sondern harte wirtschaftliche Entscheidungen. Das war erklärte Politik.

Keine Angst: Es geht hier nicht um die Position für oder wider Braunkohle: Es geht darum, zu verstehen, wie die Menschen den Start in die Marktwirtschaft und in die Demokratie erlebt haben:

als knallharten Abbau ihres bisherigen Lebens. Mit der Demokratie kam die lang ersehnte Freiheit, aber eben auch die absolute soziale Unsicherheit.

Es ist schwer zu beschreiben, wie die Demütigungen und Kränkungen damals die Leute heute noch prägen. Viele wurden arbeitslos oder hatten das Gefühl, gescheitert zu sein – und schämen sich noch heute: Ein Künstler erzählte mir von einem Klassentreffen, an dem er den Vorschlag machte, über die Erlebnisse der letzten 30 Jahre zu erzählen. Drei Frauen standen auf: „Wenn wir das machen, dann gehen wir.“

In der Rückschau erscheinen alle Unternehmen als bankrott und ruinös. Doch es existieren eben sehr viele glaubhafte Berichte, dass manche dieser Unternehmen hätten gerettet werden können – und bei manchen Käufen westdeutsche Unternehmen nur den Markt bereinigten und sich so einer billigen Konkurrenz entledigten.

Ein Beispiel: Nehmen wir die ehemalige Margarethenhütte im ostsächsischen Großdubrau. Sie war damals Arbeitsstätte für 800 Menschen in der strukturschwachen Region bei Bautzen. Diese Keramikfabrik hat zu DDR-Zeiten Hochspannungs-Isolatoren hergestellt, die zu 80 Prozent in die ganze Welt und sogar in den kapitalistischen Westen exportiert wurden. Laut den damaligen Ingenieuren war die Fabrik teilwiese mit überaus modernen Maschinen aus der Schweiz ausgestattet.

Wahrscheinlich war den meisten damals klar, dass Arbeitskräfte wegfallen würden. Aber viele waren eben auch überzeugt, dass man für die jeue Zeit gut aufgestellt wäre.

Plötzlich hieß es aber über Nacht, der Betrieb müsse geschlossen werden. Es wurde behauptet, alles sei völlig veraltet und marode. Doch das ist nicht alles: Die ehemaligen Ingenieure erzählten mir, wie nachts die wichtigsten Betriebsunterlagen und Keramik-Rezepturen in einem Tresor weggeschleppt und die Maschinen ausgebaut wurden. Ich kann nur wie die ganze Belegschaft vermuten: wahrscheinlich geschah das zugunsten der Konkurrenz.

Bis heute erleben die Betroffenen die Ereignisse von damals als Betrug von westdeutschen Kapitalisten an ostdeutschen Arbeitern, die damals hoffnungsfroh in die deutsche Einheit starten wollten.

Als ich vor einem Jahr Großdubrau besuchte, sagte der Bürgermeister, dass eine ganze Generation seine Region verlassen habe: All jene, die noch einigermaßen flexibel waren, sind weg.

Ein großer Teil der Belegschaft war zu einer großen Veranstaltung in ihrem ehemaligen Betrieb gar nicht erst gekommen – sie konnten es nicht, die Erinnerungen waren zu schmerzhaft.

Einer, der sich traute und offen sprach, brach nach ein paar Worten ab. Er verließ den Raum. Unter Tränen. Ein gestandener Mann und Arbeiter. Nach 30 Jahren immer noch zutiefst verletzt.

Die AfD erzielte bei den Bundestagswahlen 2017 in Großdubrau 42,4 Prozent.

 

Ja, mancher Betrieb und Firmensitz würde heute im Osten vielleicht noch bestehen.

Doch eine westdominierte Politik provozierte den Ausverkauf des Ostens: Im Westen sollte sich möglichst nichts ändern – man hatte Angst um die politischen Mehrheiten im Land.

Eine Gefährdung westdeutscher Arbeitsplätze durch vielleicht sogar staatlich geförderte Unternehmen im Osten – dieses Szenario hatte keine Chance. Kann man das den westdeutschen Politikern und Betriebsräten übelnehmen? Natürlich nicht. Würden heute ostdeutsche Betriebsräte anders reagieren, wenn es um ein Konkurrenzunternehmen in Polen ginge? Natürlich nicht.

Es muss aber einfach mal gesagt werden dürfen: Der Osten hätte mehr Potential gehabt – Chancen wurden aber aktiv durch westdeutsche Unternehmen kaputt gemacht.

Jeder Westdeutsche, der erschrocken oder manche auch hämisch auf das AfD-Ergebnis in Großdubrau schaut, sollte das bedenken.

Die Westdeutschen müssen nachvollziehen können, was wirklich nach der Wende passiert ist.

Ja, die Häuser in Leipzig, Dresden, Görlitz oder Weimar sind wunderschön saniert. Die Dorfkerne glänzen anders als etwa im Ruhrgebiet.

Doch die Westdeutschen müssen wissen: Kaum eines dieser wunderschönen Häuser gehört einem Ostdeutschen – sie gehören westdeutschen Zahnärzten und Rechtsanwälten.

Wir Ostdeutschen haben die Diktatur in einer friedlichen Revolution niedergerungen. Wir konnten uns aber nicht die Demokratie erkämpfen, wie dies die West-Deutschen spätestens mit der 68er-Bewegung massiv taten.

Im Gegenteil wurde nach meiner Einschätzung das zarte Pflänzchen demokratischer Beteiligung nach 1990 recht heftig am Wachsen gehindert. Viele hatten die „Runden Tische“ am Ende der DDR als eine basisdemokratische Sternstunde erlebt. Überall wurde über Politik und Demokratie geredet. Doch diese neu entstandene, junge, natürlich auch teilweise unerfahrene Bürgergesellschaft wurde nach 1990 nicht nur ignoriert.

Sie wurde von den westdeutschen Politikprofis und der westdeutsch dominierten Realpolitik übergangen.

Und ähnlich übergestülpt wurde ein Wirtschaftssystem:

So wie die Investmentbank Lehman-Brothers zum Symbol für einen Raubtierkapitalismus und deren Zusammenbruch zur Metapher der Krisenanfälligkeit des Finanzkapitalismus wurde, so ist die Treuhand für die Ostdeutschen das Sinnbild des menschenfeindlichen, über Nacht hereingebrochenen Turbokapitalismus Anfang der 90er Jahre geworden.

Wenn heute viele über das Misstrauen in Eliten und Institutionen in Folge der Finanzkrise und des Zusammenbruchs von Lehman-Brothers beklagen, kann ich nur sagen: Genau einen solchen Einschlag haben die Ostdeutschen schon 20 Jahre früher erlebt.

Das alles ergab bei vielen ein latentes Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Bis heute.

Vor zwei Jahren erschien eine Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2016 unter dem Titel „Wer beherrscht den Osten?“:

Noch heute sind die Spitzenpositionen in Ostdeutschland in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, in Medien und Militär gerade mal zu 25 bis 35 Prozent mit Ostdeutschen besetzt.

Dass man damals 1990 auf westdeutsche Experten zurückgreifen musste, war klar: Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte die Kopie des westdeutschen Systems gewählt – also brauchte man Leute, welche Expertise hatten. Das waren nun mal Westdeutsche.

Doch dass 30 Jahre nach der Einheit die Zahl der Ostdeutschen in Spitzenpositionen in manchen Bereichen sogar zurückgegangen sind, ist für manche schwer erkklärbar.

Die reiche und einflussreiche Oberschicht schließlich ist übrigens komplett „ossifrei“. Die bundesweit 500 vermögendsten Familien kommen alle aus Westdeutschland.

Allein in Düsseldorf wohnen mehr als doppelt so viele Einkommensmillionäre wie in ganz Sachsen.

Das alles hatte natürlich viele Gründe. Und ich betone ausdrücklich, es geht mir nicht um eine Abwertung der Arbeit der vielen westdeutschen Aufbauhelfer.

Wie wäre es aber, wenn im Ruhrgebiet alle Machtstellen von Bayern oder Ostwestfalen besetzt wären?

Ostdeutschen bescheinigte man damals häufig, dass sie nicht über nötige Qualifikationen verfügten. Und nicht selten wird immer noch lächelnd oder leicht beschämt über den Osten geredet.

Und das erinnert mich an etwas:

In den USA nennen viele Liberale die ländlichen Gebiete zwischen Ost- und Westküste „Flyover States“ und meinen, diese seien eigentlich nicht wichtig bzw. total zurückgeblieben, jedenfalls nichts, was zu einem Zwischenstopp einlädt. Hier fliegt man nur drüber.

Genau diese Regionen wählten allerdings mehrheitlich Trump.

Und dieses Gefühl der Unterlegenheit hält lange an. Und macht sensibel. Nehmen wir manche politische Entscheidung und Krise der letzten 15 Jahre, die zwar ganz Deutschland betroffen haben. Doch diese werden aus den Erfahrungen und Wirkungen der Nachwendezeit im Osten krasser, bedrohlicher und ungerechter wahrgenommen:

Der Nachwendezeit folgte die Agenda 2010. Natürlich, das betraf auch Menschen im Westen. Nicht zuletzt auch das Ruhrgebiet. Doch im Osten war es fast eine kollektive Erfahrung als Folge massenhafter Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit. „Fordern und Fördern“ war absurd: in meinem Landkreis gab es eine Arbeitslosigkeit von 30 Prozent Ende der 90er Jahre.

Wussten Sie, dass ein Viertel der arbeitenden Sachsen vom Mindestlohn von 8,50 Euro profitierte? D.h., jeder vierte Arbeitnehmer verdiente also vorher weniger.

Die riesige Arbeitslosigkeit sorgte dafür, dass damals die Menschen auf höhere Löhne verzichteten, um die wenigen Unternehmen, die es noch gab, nicht zu gefährden.

Und genau jetzt kocht das hoch; denn heute fühlen sie sich viele Menschen doppelt betrogen, wenn sie auf ihre Rentenbescheide schauen: 36 Prozent der ostdeutschen Rentner drohen bis 2030 unter die Altersarmutsgrenze zu rutschen.

Ich weiß, auch viele westdeutsche Frauen landen in Altersarmut! Sie haben Kinder aufgezogen und haben folglich mickrige Renten. Das stimmt.

Doch es bedeutet doch nicht, dass man für westdeutsche Frauen nichts tun sollte, die aufgrund des Lebensmodells in der alten Bundesrepublik daheim bei den Kindern blieben, die Erziehung übernahmen und oftmals ebenfalls in der Altersarmut landen. Es gab nun mal kaum Kitas im Westen!

Doch wir sollten verhindern, dass die zukünftigen armen Ost-Rentner gegenüber den armen westdeutschen Frauen ausgespielt werden.

Viele Ostdeutsche haben sich zurückgezogen in einen Kokon der sie schützt. Man ging nicht mehr wählen, man schimpfte und murrte, aber mehr passierte nicht. Man eignete sich eine raue Schale an.

Ich bemerke leider, dass viele aufgrund der Kränkungen und Demütigungen böse, wütend und auch oft ungerecht gegenüber anderen geworden sind und Pöbeleien und Hass freien Lauf lassen.

Dazu kommt ein in den Jahren aufgestautes Misstrauen gegen alles. Die meisten im Osten haben aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen in der Nachwendezeit den Spruch in den Ohren, „die wollen Dich doch sowieso über den Tisch ziehen“. Die Treuhand als negativer „Gründungsmythos“ beinhaltet auch eine „Gründungs-Verschwörungstheorie“.

Dieses Misstrauen ist mittlerweile so groß geworden, dass man leicht denen auf den Leim geht, die weiter Misstrauen schüren und – das ist fast schon ein Treppenwitz der Geschichte: oftmals aus dem Westen kommen.

Es ist ja nicht ohne Ironie, dass die besonders radikalen unter den Rechtspopulisten im Osten lauter westdeutsche Scharfmacher sind: Alexander Gauland, Björn Höcke, Jens Meier, Götz Kubitscheck oder andere kommen alle aus dem Westen. Auch die ehemaligen sächsischen NPD-Kader wie Holger Apfel oder Jürgen Gansel. Eine Journalistin sagte mir einmal, sie sei völlig überrascht gewesen, dass auf den sächsischen Parteitagen der AfD schwäbisch gesprochen werde.

Und so bleibt es dabei: Die Nachwendzeit ist eben nicht zu Ende. Sie hängt in den Köpfen. Sie spaltet die Gesellschaft. Sie bringt Unfrieden in die Familien. Sie spaltet Ost und West.

Wir brauchen eine Aufarbeitung der Nachwendezeit. Und zwar in Ost und West. Doch eine solche Aufarbeitung muss auf Augenhöhe geschehen.

Wenn wir Ostdeutschen nur meckern und unserseits nicht die westdeutsche Entwicklung einer Einwanderungsgesellschaft verstehen wollen, machen wir uns selbst zu Bürgern zweiter Klasse.

Nehmen wir die westdeutschen Bergleute: Diesen sehr politischen und organisierten Menschen ist eben durchaus bekannt, wie der Ausstieg aus der Kohle im Osten ablief, welche Herabsetzung die Leute hier erfahren haben, und dass es den Kumpeln im Westen relativ gesehen sehr viel besser ergangen ist.

Sie haben aber – Zitat eines Gewerkschafters – „keinen Bock“ – sich immer nur anzuhören, dass es ihnen doch im Vergleich zu ihren ostdeutschen Kumpels total gut gehe.

Und sie sehen gleichzeitig, dass es ja nicht nur ein Vorurteil ist, dass im Osten die Straßen und öffentlichen Einrichtungen neu sind und Investitionen in den „neuen Bundesländern“ getätigt wurden, während die Städte und die Infrastruktur in Duisburg, Gelsenkirchen oder auch Marl teilweise veröden.

Und wir Ostdeutschen müssen anerkennen, dass auch Gelsenkirchen oder Mannheim einen enormen Strukturwandel hinter sich haben.

Und ich möchte nicht, dass wir die Solidarität zu unseren Mitmenschen verlieren und Schwache gegeneinander ausgespielt werden.

Ich denke, die Superreichen freuen sich gerade, wenn in der Gesellschaft nur über Flüchtlinge und Ostdeutsche gesprochen wird – und nicht über Ungleichheit und Ungerechtigkeiten.

Warum verbünden wir uns eigentlich nicht gegen Söders Schutztruppe der Millionäre am Starnberger See? Gegen die CSU, dem Lobbyist der Superreichen, wie wir bei der Reform der Erbschaftssteuer gesehen haben.

Wir brauchen ein Bündnis zwischen Ruhrgebiet und Lausitz, zwischen den schwachen Regionen im Westen und denen im Osten! Machen wir das Spiel der Spaltung einer solidarischen Mehrheit nicht mit!

Ich bin hier, um für Solidarität und ein Miteinander zu werben.

Vielen Dank.