Tillmann: Eine Vorratsdatenspeicherung kann nicht im Sinne der Sozialdemokratie sein
Ein Kommentar von Henning Tillmann, selbständiger Softwareentwickler und Mediengestalter, Mitglied der Medien- und Netzpolitischen Kommission beim SPDParteivorstand, für den Sachsenvorwärts, Ausgabe Juli 2015.
Am 20. Juni entscheidet der SPD-Parteikonvent über 100 Anträge mit quasi identischem Inhalt: Es soll keine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung (VDS) geben. Ebenso haben fast alle SPD-Landesverbände, darunter Sachsen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern, in den letzten Monaten und Jahren Beschlüsse gegen die VDS gefasst. Doch worum geht es eigentlich genau und warum ist die massenhafte Speicherung nur schwierig mit den Grundwerten der Sozialdemokratie vereinbar?
Vor gut acht Jahren führte Deutschland mit den Stimmen der damaligen Großen Koalition das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung“ ein. Die damalige Vorratsdatenspeicherung basierte auf einer EU-Richtlinie, die alle Mitgliedsstaaten verpflichtete, eine anlasslose und flächendeckende Speicherung aller Kommunikationsmetadaten bei den privaten Telekommunikationsunternehmen anzulegen. Es sollte u. a. gespeichert werden, wer wann mit wem telefonierte, wer wann wem eine E-Mail schickte und wer wann welche IP-Adresse besaß. Des Weiteren musste protokolliert werden, wo sich ein Mobiltelefon geografisch befand, wenn eine Telefon- oder Internetverbindung aufgebaut wurde. Telekommunikationsanbieter mussten diese Daten sechs bis sieben Monate speichern.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte 2010 die Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung insbesondere wegen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes für verfassungswidrig. Allerdings hat es Vorgaben gemacht, wie eine verfassungskonforme Umsetzung der Richtlinie möglich sein könnte, da Deutschland immer noch durch die EU-Richtlinie verpflichtet war, eine nationale Umsetzung zu realisieren.
Auf dem SPD-Bundesparteitag 2011 wurde die Vorratsdatenspeicherung heiß diskutiert. Ein Antrag der Jusos, der den kompletten Verzicht auf eine VDS forderte, scheiterte nur knapp – es musste mehrfach ausgezählt werden, da eine Mehrheit nicht ausgemacht werden konnte. Der Parteitag beschloss schließlich einen Kompromissantrag unter dem Druck von möglichen Strafzahlungen, sollte Deutschland die Richtlinie nicht umsetzen.
Nach der Bundestagswahl 2013 – die FDP konnte in der damaligen schwarz-gelben Koalition eine Neueinführung der Vorratsdatenspeicherung erfolgreich verhindern – wurde im Koalitionsvertrag der Großen Koalition vermerkt: „Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und die Nutzung von Telekommunikationsverbindungsdaten umsetzen. Dadurch vermeiden wir die Verhängung von Zwangsgeldern durch den EuGH“. Die Vorratsdatenspeicherung sollte nun also erneut kommen. Man wollte jedoch erst einmal – vorsichtshalber – das Urteil des Europäischen Gerichtshofs abwarten, das sich im Frühjahr 2014 auch noch einmal mit der EU-Richtlinie befasste. Am 8. April 2014 geschah dann aus Sicht der VDS-Befürworter etwas kaum Vorstellbares: die EU-Richtlinie wurde vom EuGH gekippt – und zwar fundamental. Die Richtlinie verstoße gegen die Europäische Grundrechtscharta, gegen das normierte Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, gegen das Grundrecht auf Schutz der personenbezogenen Daten und gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Rechtsgutachten gehen mittlerweile davon aus, dass wegen dieser erheblichen Bedenken des Europäischen Gerichtshofs eine neue EU-Richtlinie zur VDS praktisch ausgeschlossen sei.
Obwohl die entscheidende Grundlage für die Vorratsdatenspeicherung, die EU-Richtlinie, sowohl für den Koalitionsvertrag als auch den Bundesparteitagsbeschluss 2011 weggefallen ist, soll die Vorratsdatenspeicherung erneut eingeführt werden. Zwar wurden die Speicherfristen reduziert und auch etwas an verschiedenen Stellschrauben gedreht, der Grundgedanke ist jedoch gleich. Es stellt sich daher die Frage: Passt eine VDS eigentlich zu den Grundwerten der Sozialdemokratie?
Die Sozialdemokratie orientiert sich an einem humanistischen Menschenbild. Eine flächendeckende und anlasslose Speicherung aller Kommunikations- und Ortungsdaten kehrt die Unschuldsvermutung jedoch um. Es werden Daten aller Menschen gesammelt; ohne, dass es einen konkreten Grund gibt. Denn, so die Idee der VDS, jeder und jede könnte einmal kriminell werden oder in Kontakt mit Kriminellen stehen. Für den Hinterkopf: Sollte ein Mensch tatsächlich in Verdacht stehen, kriminell zu sein bzw. eine Straftat begehen zu wollen, so gibt es bereits jetzt noch viel weitergehende, sinnvollere und gezieltere Maßnahmen (z. B. die Telekommunikationsüberwachung, kurz: TKÜ).
Menschen unter Generalverdacht zu stellen, erzeugt auch eine innere Schere in den Köpfen: Wer weiß, dass jede Bewegung protokolliert und jeder Anruf gespeichert wird, verhält sich bewusst oder unbewusst anders. Anders als bei Facebook, Google und Co haben die Menschen auch nicht die freie Wahl, ob sie die Dienste nutzen und damit ihre Daten erfasst werden sollen oder nicht. Und selbst die genannten großen Internetunternehmen können nicht an so detaillierte und fortlaufende Standortdaten, wie sie bei der VDS verlangt werden, gelangen. Da Smartphones gewissermaßen permanent mit dem Internet verbunden sind, werden stetige Ortsinformationen im VDS-Datenpool angehäuft. Mit der Erhebung dieser Daten wird der wohl größte Eingriff in die Persönlichkeitsrechte begangen: Über jede und jeden wird über Wochen festgehalten, wann sie bzw. er sich wo aufgehalten hat.
Ob eine Vorratsdatenspeicherung überhaupt zu Erfolgen bei der Aufklärung von Straftaten führt (zur Verhinderung von Straftaten ist sie ohnehin nicht gedacht), kann zumindest bezweifelt werden. Ein Gutachten des Max-Planck-Instituts zeigt, dass keine Schutzlücke durch das Fehlen einer Vorratsdatenspeicherung besteht. Und selbst wenn es Einzelfälle geben sollte, stellt sich die Frage, ob es deswegen zu staatlich verordneten Massen-Datenpools kommen muss. Denn: auch durch Videoüberwachung jeder Straßenecke und durch die Protokollierung jedes einzelnen klassischen Briefs könnten möglicherweise mehr Straftaten aufgedeckt werden. Dennoch würden solche Vorschläge zurecht abgelehnt.
Zusammengefasst lässt sich sagen: eine flächendeckende und anlasslose Speicherung der Daten aller Menschen grundrechtskonform und auch mit dem Geist der Sozialdemokratie zu gestalten ist nicht möglich. „Im Zweifel für die Freiheit“, sagte schon Willy Brandt 1987.