+++ OFFENER BRIEF +++

Sehr geehrter Herr Hirte,

mit Interesse habe ich in der Thüringer Allgemeinen Zeitung ihre Einschätzungen zu Zukunfts- und Gerechtigkeitsfragen in Ostdeutschland gelesen. Diese möchte ich – nein, ich muss viel mehr – zum Anlass nehmen, um Ihnen zu schreiben. Eins vorweg: Mir geht es in meinem Brief nicht um die SPD, sondern vielmehr möchte ich Ihrem Bild von den Menschen in Ostdeutschland widersprechen.

Ihre Fokussierung auf den „Standort“ Ostdeutschland, also eine rein ökonomische Betrachtung, zeigt sehr genau, worin sich meine Betrachtung von Ihrer unterscheidet. Wir sind hier nicht nur ein Wirtschaftsstandort. Wir sind ein großer Teil Deutschlands mit einer besonderen Geschichte, besonderen Biografien und Lebensgeschichten. Eine gerechte Politik, die Menschen aus Ost und West gleichermaßen wertschätzt, braucht eine positive Haltung gegenüber Land und Leuten und einen realistischen Blick auf die verschiedenen Ausgangssituationen.

Sie schreiben, wir könnten mit dem Thema Landwirtschaft wenig anfangen und deshalb wäre uns das Leben „der dort lebenden Menschen fremd“. Besteht der Osten denn wirklich vor allem aus Landwirtschaft? Was ist mit unseren Metropolen Leipzig, Rostock, Magdeburg, Erfurt, Potsdam, Chemnitz, Jena, Dresden – um nur einige zu nennen? Was ist mit den vielen Universitäten, hochqualifizierten FacharbeiterInnen und den innovativen Start-up UnternehmerInnen?

»Nein, Herr Hirte, wir zerfließen hier weder in Selbstmitleid noch handeln wir unsouverän. Und wir wohnen auch nicht in Lehmhütten. Es geht um Respekt und Anerkennung.«

Sie heben die Bayern heraus, die „ohne Selbstmitleid und mit einem souveränen Auftritt“ eine führende Wirtschaftskraft geworden sind. Haben die Bayern das denn wirklich nur mit einem souveränen Auftritt geschafft? Was ist eigentlich mit der Deindustrialisierung, den 40 Jahren DDR-Diktatur und der Abwanderung, die den Osten Deutschlands bis heute prägen?
Nein, Herr Hirte, wir zerfließen hier weder in Selbstmitleid noch handeln wir unsouverän. Und wir wohnen auch nicht in Lehmhütten. Es geht um Respekt und Anerkennung. Nicht mehr und nicht weniger.

»Die Grundrente ist eine Anerkennung der Lebensleistung. Dass wir sie einfordern, ist Ausdruck unseres Selbstbewusstseins. Deshalb lehnen wir eine entwürdigende Bedürftigkeitsprüfung ab.«

Die Menschen hier wissen, was sie geleistet haben. Die Menschen haben für ihren oft bescheidenen Wohlstand hart gearbeitet, gerade in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Massenarbeitslosigkeit, die Entwertung von Abschlüssen und niedrigere Löhne führen trotz harter Arbeit heute oft zu Armutsrenten. Die Grundrente ist deshalb eine Anerkennung der Lebensleistung. Dass wir sie einfordern, ist übrigens Ausdruck unseres Selbstbewusstseins. Deshalb lehnen wir eine entwürdigende und bürokratische Bedürftigkeitsprüfung auch ab.
In einem Punkt gebe ich Ihnen sogar recht: Ja, wir brauchen mehr Ostdeutsche in Führungspositionen. Diese berechtigte Forderung gegen die ebenso berechtige Forderung nach der Gleichstellung von Frauen auszuspielen, halte ich hingegen für billig. Welch Ironie ist es doch, dass gerade ostdeutsche Frauen mit ihrer guten Ausbildung und tiefen Verankerung im Erwerbsleben besonders profitieren würden, wenn die Top-Positionen nicht nur Männern vorbehalten blieben.

»Ich kämpfe hier für alle Menschen. Für die vielen, denen die Welt offen steht und die alle Chancen haben.“«

Ich kämpfe hier für alle Menschen. Für die vielen, denen die Welt offen steht und die alle Chancen haben. Aber auch für jene, die enttäuscht wurden. Viele der Enttäuschungen stammen, wie Petra Köpping auch in ihrem Buch „Integriert doch erstmal uns“ beschreibt, aus der Nachwendezeit, einer rücksichtslosen Privatisierungspolitik der Treuhand und gebrochenen Versprechen. Ich kann verstehen, dass ein CDU-Politiker nicht gerne über die Fehler der Regierung Kohl sprechen möchte. Aber ich glaube, wir müssen das tun, um die Herzen der Menschen für die Zukunft zu öffnen.
Wir müssen die Lebensleistung der Menschen anerkennen, um gemeinsam für eine gute Zukunft kämpfen zu können. Unsere Forderungen haben nichts mit „jammern“ zu tun – wir müssen über die Fehler der Vergangenheit sprechen, um sie in der Zukunft zu vermeiden. Wie wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich Ostdeutschland mit all seinen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, kreativen Köpfen und innovativen Ideen in eine erfolgreiche politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Deutschlands einbringt, beschreiben wir als SPD in unseren Beschlüssen, die ich Ihnen wirklich empfehle.

»Ich halte es für unwürdig, dass Sie in Ihrer Funktion das alte, westdeutsche Klischee des „Jammer-Ossis“ bedienen.“«

Sehr geehrter Herr Hirte,
Sie wollten mit Ihren Aussagen offenbar die SPD treffen. Als CDU-Politiker die SPD zu attackieren, ist Ihr gutes Recht. Aber Sie haben als Ostbeauftragter der Bundesregierung mit Ihrer Polemik die Menschen in Ostdeutschland getroffen. Das werde ich nicht zulassen. Ich halte es für unwürdig, dass Sie in Ihrer Funktion das alte, westdeutsche Klischee des „Jammer-Ossis“ bedienen. Eine positive Haltung zu Land und Leuten sieht anders aus.

Mit freundlichen Grüßen,
Martin Dulig

Download: Offener Brief Martin Dulig an Ostbeauftragten Christian Hirte